Gesundheit heute

Systemische Sklerose

Systemische Sklerose (Sklerodermie, Systemsklerose, SS, Progressive Systemsklerose PSS): Chronische autoimmunologische Bindegewebserkrankung aus der Gruppe der Kollagenosen. Es kommt zu Verdickung und Verhärtung der Haut, mit oder ohne Beteiligung innerer Organe (z. B. Speiseröhre, Lunge, Nieren oder Herz), Gelenke oder Muskeln. Über 90 % der Patient*innen leiden unter einem sekundären Raynaud-Syndrom mit Durchblutungsstörungen vor allem an den Fingern. Frauen erkranken etwa viermal häufiger als Männer. Der Krankheitsbeginn liegt meist zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr. Eine Heilung ist nicht möglich, stattdessen steht die Linderung der Beschwerden und die Behandlung der jeweiligen Organschäden im Vordergrund. Zum Einsatz kommen physikalische Maßnahmen, Kälteprophylaxe, Rauchverbot und eine immunmodulierende, antientzündliche Therapie, z. B. mit Glukokortikoiden und Antirheumatika.

Hinweis: Unterschieden von der systemischen Sklerose wird die zirkumskripte Sklerodermie. Sie zeichnet sich durch umschriebene Verhärtungen (Sklerose) der Haut aus, ohne dass dabei innere Organe betroffen sind oder eine Raynaud-Symptomatik auftritt. Diese Erkrankung wird auch Morphea genannt und von der Hautärzt*in behandelt.

Symptome und Leitbeschwerden

Hautveränderungen:

  • Verhärtungen der Haut an Händen, Füßen und/oder Körperstamm
  • Kleine Geschwüre, nach Abheilung Narben an den Fingerspitzen
  • Engegefühl der Haut, Gefühl als sei der Körper "eingemauert"
  • Gesichtsveränderungen, Mund wird kleiner
  • Schmerzlose Wasseransammlungen an Händen und Füßen
  • Stippchenförmige, durch die Haut hindurch schimmernde Kalkspritzer.

Weitere Beschwerden:

  • Bei Kälte oder Stress plötzliches Weißwerden einzelner oder mehrerer Finger (Raynaud-Symptomatik)
  • Allgemeine Müdigkeit und unerklärliche Mattigkeit, Fieber, Gewichtsabnahme
  • Trockener Mund, trockene Augen
  • Schluckbeschwerden, Sodbrennen
  • Atemnot
  • Gelenksteifigkeit, Gelenkschmerzen.

Wann in die Arztpraxis

Demnächst, wenn

  • eine oder mehrere der oben genannten Beschwerden auftreten.

Die Erkrankung

Ausgangspunkt der systemischen Sklerose ist ein fehlgeleitetes Immunsystem. Es erkennt körpereigene Strukturen als fremd und regt die weißen Blutkörperchen an, Antikörper gegen das eigene Gewebe (Autoantikörper) zu bilden. Die Autoantikörper verteilen sich über das Blut im ganzen Organismus und verursachen an Organen, Gelenken und in der Haut Entzündungen. Gleichzeitig produziert der Körper mehr Bindegewebsfasern (Kollagen). Die überproduzierten Fasern lagern sich als Knoten und Verhärtungen in der Haut an und in den inneren Organen ab. Diese Ansammlungen von Bindegewebe (Fibrose) kann die Funktion der Organe massiv einschränken (siehe unten).

Zusätzlich kommt es durch die autoimmunen Prozesse zu einer Schädigung der Innenschicht der Blutgefäße. Dadurch wird der Gefäßinnenraum enger, was im ganzen Körper die Durchblutung stören kann.

Weil das ganze Körpersystem von der Erkrankung betroffen ist, spricht man von einer systemischen Erkrankung.

Epidemiologie und Ursache

Die systemische Sklerose ist selten, es erkranken etwa 50 von 100.000 Menschen in Deutschland daran. Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer (3–5 : 1).

Die Ursache ist unklar, eine genetische Veranlagung ist anzunehmen. Diskutiert werden zudem verschiedene Krankheitsauslöser, beispielsweise Chemikalien wie organische Lösungsmittel, Benzin, Quarzstaub oder Formaldehyd. In Frage kommen auch bestimmte Medikamente oder Drogen, zum Beispiel Bleomycin, L-Tryptophan, Methamphetamin, Kokain und Appetitzügler wie Fenfluramin.

Klinik

Die systemische Sklerose wird in zwei Formen eingeteilt: die häufigere limitierte Form und die diffuse Form. Limitierte und diffuse Form unterscheiden sich darin, wie ausgeprägt die Beschwerden sind und in welchem zeitlichen Verlauf sie erscheinen.

Bei beiden Formen sind Finger, Zehen sowie Nase und Ohren verhärtet und verdickt. Das Gesicht ist maskenhaft starr, die Mundöffnung verkleinert (Mikrostomie). Die Haut ist aufgequollen, aber zugleich straff und verhärtet, oft lagert sich Kalk ein. Besonders an den Fingern entwickeln sich durch die Veränderungen an Haut und Bindegewebe Kontrakturen (Sklerodaktylie). Das bedeutet, dass die Gelenke in einer Stellung fixiert sind. Außerdem leidet fast jede Patient*in unter einem sekundären Raynaud-Syndrom.

Bei der limitierten Form beschränken sich die Hautveränderungen fast immer auf die Akren (Finger, Zehen, Nase, Ohren) und das Gesicht. Innere Organe sind meist erst sehr spät betroffen.

Die seltenere diffuse Form ist weitaus aggressiver. Die Hautveränderungen breiten sich über den gesamten Körper und das Gesicht aus. Außerdem leiden die Patient*innen meist erheblich unter trockenen Schleimhäuten, was sich vor allem an den Augen und im Mund bemerkbar macht. Oft entzünden sich auch die Gelenke. Diese schmerzen dann und werden steif. Innere Organe sind bei der diffusen Form früh und ausgeprägt beteiligt:

  • Bei etwa der Hälfte der Patient*innen ist die Speiseröhre betroffen: ihre Wand wird zunehmend starr, Schluckbeschwerden sind die Folge.
  • Als zweithäufigstes Organ wird die Lunge in Mitleidenschaft gezogen, in Form einer Lungenfibrose mit trockenem Husten und Atemnot. Das zunehmende Bindegewebe versteift die Lunge und behindert das Einatmen.
  • Am Herzen drohen Muskelentzündungen und in der Folge Herzschwäche und Herzrhythmusstörungen. Bei einer Beteiligung der Niere kann es zu einem Nierenversagen kommen.

Das CREST-Syndrom ist eine Sonderform der systemischen Sklerose, die vor allem Frauen über 50 Jahre betrifft. Durch die autoimmunbedingte Überproduktion von Kollagenfasern kommt es zu folgenden fünf Symptomen:

  • Calcinosis cutis (knotige Kalkeinlagerungen in der Haut)
  • Raynaud-Syndrom
  • Bewegungsstörungen der Speiseröhre (englisch Speiseröhre = esophagus)
  • Sklerodaktylie (gespannte und verhärtete Haut an den Fingern)
  • Teleangiektasien (erweiterte Blutgefäße in der Haut, Besenreiser).

Zusätzlich können eine Lungenfibrose oder ein Bluthochdruck im Lungenkreislauf auftreten (pulmonale Hypertonie).

Diagnosesicherung

Eine Verdachtsdiagnose stellen Ärzt*innen bereits nach der klinischen Untersuchung, wenn ihnen die typischen Verhärtungen an Fingern und Zehen auffallen. Auch ein Raynaud-Syndrom spricht für eine Sklerodermie. Um sicher zu gehen, gibt es weitere Untersuchungen:

Kapillarmikroskopie des Nagelfalzes. Dafür tropft die Ärzt*in etwas Öl auf das Nagelbett (die Nagelfalz) und untersucht es unter einem herkömmlichen Mikroskop. Im Frühstadium sind die Kapillaren (kleinste Blutgefäße) erweitert und manchmal auch ausgesackt. Im Spätstadium ist die Anzahl der Kapillaren deutlich vermindert und es gibt gefäßfreie Zonen. Manchmal lassen sich auch vermehrt Pigmentablagerungen erkennen. Die Kapillarmikroskopie ist wichtig, um das sekundäre Raynaud-Syndrom im Rahmen einer systemischen Sklerose von einem primären Raynaud-Syndrom zu unterscheiden. Bei Letzterem zeigen sich keine Veränderungen der Nagelfalzkapillaren.

Hautbiopsie. Mit einer Hautbiopsie lässt sich die Diagnose bestätigen. Dazu entnimmt die Ärzt*in eine Hautprobe aus einer verhärteten und verdickten Stelle und untersucht sie feingeweblich unter dem Mikroskop. Typische Merkmale sind z. B. verbreiterte Faserbündel aus Bindegewebe und eine verringerte Anzahl von Gefäßen.

Laboruntersuchungen. Bei den Laboruntersuchungen sprechen vor allem die typischen Antikörper für eine systemische Sklerose. Allerdings kann die Erkrankung auch vorliegen, ohne dass diese erhöht sind. Am wichtigsten ist der Nachweis von antinukleären Antikörpern (ANA), die bei 90 % der Patient*innen vorhanden sind. Etwa ein Drittel der Betroffenen hat auch einen positiven Rheumafaktor. Folgende Antikörper haben ebenfalls diagnostische Bedeutung:

  • Anti-Scl-70-Antikörper sind bei etwa 40 % der Patient*innen mit diffuser systemischen Sklerose positiv und sprechen für eine schlechte Prognose.
  • Antizentromer-Antikörper finden sich vor allem bei der limitierten Form und beim CREST-Syndrom.
  • Anti-RNA-Polymerase III-Antikörper sind mit einer prognostisch ungünstigen Nierenbeteiligung assoziiert.

Weitere Laboruntersuchungen helfen dabei, das Ausmaß der Erkrankung zu erkennen. Die Entzündungswerte (CRP, BSG) zeigen, wie stark die Entzündung ausgeprägt ist. Anhand von Kreatininwert und Eiweißausscheidung im Urin weist man eine Nierenbeteiligung nach. Eine Muskelentzündung sieht die Ärzt*in am Anstieg bestimmter Muskelenzyme im Blut.

Apparative Diagnostik. Bei Schluckbeschwerden zeigen Ösophagus-Breischluck und die Speiseröhrendruckmessung, ob die Speiseröhre beteiligt ist. Um eine Lungenfibrose frühzeitig zu erkennen, werden regelmäßig CT-Aufnahmen der Lunge angefertigt und die Funktion der Lunge untersucht. Je nachdem, welche Organe befallen sind, sind auch Ultraschalluntersuchungen, EKG, Herzechokardiografie und Kontrastmitteldarstellungen erforderlich.

Behandlung

Die Behandlung der systemischen Sklerose richtet sich nach den betroffenen Organen. Neben dem Erhalt bzw. der Verbesserung der Lebensqualität ist es wichtig, den Befall innerer Organe frühzeitig zu erkennen und ihre Zerstörung aufzuhalten.

Basis der Therapie sind allgemeine Maßnahmen (siehe Ihre Apotheke empfiehlt) und eine immunmodulierende und antientzündliche Therapie, die an das Ausmaß der systemischen Entzündung angepasst wird. Dazu kommt die an spezielle Komplikationen angepasste medikamentöse oder operative Behandlung.

Immunmodulatorische Therapie

Wenn allgemeine Maßnahmen (siehe unter Ihre Apotheke empfiehlt) zur Linderung der Hautproblematik nicht ausreichen oder wenn innere Organe beteiligt sind, verordnen die Ärzt*innen in der Regel eine antientzündliche bzw. immunmodulatorische Therapie. Dadurch sollen die Entzündung und der fibrotische Umbau von Haut und Organen aufgehalten werden.

  • Medikamente. Neben Kortison werden verschiedene antirheumatische Wirkstoffe eingesetzt. Dazu gehören Cyclophosphamid, Azathioprin, Methotrexat, Mycophenolat-Mofetil oder Tocilizumab. Sie setzen an unterschiedlichen Stellen des Immunsystems an und bremsen dadurch die entzündlichen Vorgänge.
  • Extrakorporale Photopherese. Bei dieser in speziellen Zentren durchgeführten Behandlung werden der Patient*in zunächst mithilfe einer Blutwäsche weiße Blutkörperchen (Immunzellen) entnommen, diese mit UV-Licht bestrahlt und wieder zurückinfundiert. Die veränderten, zurückinfundierten Blutkörperchen bewirken dann im Körper, dass die krankhafte Immunreaktion abgemildert wird.
  • Plasmapherese. Sind die Antikörper-Titer im Blut sehr hoch, kann eine Plasmapherese helfen. Dabei handelt es sich um eine Art Blutwäsche, wodurch die Antikörper aus dem Blut entfernt und damit zumindest zeitweise reduziert werden.
  • Stammzelltransplantation. Dieses sehr riskante und aufwändige Verfahren wird eingesetzt, wenn keine anderen Maßnahmen mehr helfen und innere Organe wie die Lunge schwer betroffen sind. Dadurch werden die kranken Immunzellen entfernt und durch gesunde Immunzellen eines Spenders ersetzt.

Spezielle Therapien

Gegen Gelenkschmerzen kommen nichtsteroidale Antirheumatika wie Diclofenac oder Ibuprofen zum Einsatz. Bei starken Gelenkschmerzen und -schwellungen hilft auch niedrig dosiertes Kortison. Lassen sich die Schmerzen so nicht beherrschen, verordnet die Ärzt*in auch Opioide.

Trockene Augen lindert man mit Dexpanthenol-Augentropfen oder künstlichen Tränen. Bei Mundtrockenheit empfehlen sich künstliche Speichelpräparate, Kaugummikauen und reichliches Trinken (siehe auch unter Ihre Apotheke empfiehlt).

Bei Raynaud-Symptomatik kann das Auftragen von nitrathaltiger Salbe die Durchblutung an den betroffenen Stellen verbessern. Nitratsalbe gibt es in Deutschland allerdings nicht als Fertigpräparat, sie muss in der Apotheke angemischt werden. Sind die Beschwerden sehr stark, verordnet die Ärzt*in auch gefäßerweiternde Kalziumantagonisten in Tablettenform.

Zur Behandlung schwerer Durchblutungsstörungen dient die intravenöse Gabe von Prostaglandinpräparaten oder Iloprost. Sind Arterien betroffen, ist manchmal ein gefäßchirurgischer Eingriff erforderlich (z. B. das Legen einer Art Bypass bei Befall der A. radialis (Speichenarterie).

Kalkeinlagerungen in der Haut (Calcinosis cutis) erfordern ebenfalls ein chirurgisches Eingreifen. Oberflächliche Knoten schabt man aus (Kürettage), tiefere entfernt die Ärzt*in mit dem Skalpell oder dem Laser.

Zur Therapie der interstitiellen Lungenfibrose gibt es seit einigen Jahren vielversprechende Wirkstoffe. Behandelt wird zweigleisig, und zwar sowohl gegen die Entzündung (z. B. mit Cyclophosphamid, Tocilizumab und Mycophenolat-Mofetil) als auch gegen die Bindegewebsvermehrung (antifibrotisch). Zugelassen zur Therapie der Lungenfibrose bei systemischer Sklerose ist der Wirkstoff Nintedanib. Durch seine antifibrotische Wirkung kann Nintedanib den bindegewebigen Umbau der Lunge abmildern und die fortschreitende Atemnot lindern. Weitere Wirkstoffe sind in der klinischen Erprobung.

Prognose

Die Prognose der systemischen Sklerose ist individuell sehr unterschiedlich. Sie hängt maßgeblich vom Befall innerer Organe ab, wobei die Entwicklung einer Lungenfibrose den größten Einfluss auf die Lebenserwartung hat.

Mit einer adäquaten Behandlung kann das Fortschreiten oft verzögert oder zu einem Stillstand gebracht werden.

Ihre Apotheke empfiehlt

Bei der Behandlung der systemischen Sklerose sind folgende Basismaßnahmen in jedem Stadium essenziell:

Rauchen abgewöhnen. Nikotin verengt die Blutgefäße und vermindert die Durchblutung. Die durch die systemische Sklerose ohnehin verschlechterte Blutversorgung von Akren und Organen wird dadurch weiter vermindert. Sklerosepatient*innen sollten deshalb auf jeglichen Nikotingenuss verzichten.

Kälte vermeiden. Beim Raynaud-Syndrom sollten die Hände immer und überall möglichst warm gehalten werden. Neben Handschuhen helfen Pulswärmer dabei. Auch sonst ist Kälte zu meiden: Das bedeutet z. B., die Wohnung gut zu heizen und auf Wintersport zu verzichten. Viele Betroffene empfinden Wärmepackungen, warme Bäder und Infrarot-Kabinen als hilfreich.

Hautpflege und Kleidung. Das zunehmende Spannen der Haut lässt sich durch ölhaltige Bäder, Duschcremes und regelmäßiges Eincremen der Haut mit fetthaltigen Lotionen etwas mildern. Gut passende, weiche Schuhe (hinten eng und vorne weit) und weite Kleidung helfen, schlecht heilende Druckstellen zu vermeiden.

Mikrostomie. Sehr belastend für Patient*innen mit systemischer Sklerose ist die Mikrostomie, d. h. das durch Haut- und Bindegewebsschrumpfung Kleinerwerden des Mundes. Dem muss frühzeitig mit logopädischen Dehnübungen vorgebeugt werden.

Essen und Trinken. Bei Schluckstörungen zum Essen viel trinken und gut kauen. Bei gleichzeitiger Refluxkrankheit nicht direkt nach dem Essen hinlegen, da dies vermehrt Magensäure in die Speiseröhre zurückfließen lässt. Das Essen sollte auf viele kleine Mahlzeiten verteilt und fette Speisen am Abend gemieden werden.

Gymnastik. Zur Erhaltung der Beweglichkeit tragen gymnastische Übungen bei, z. B. Dehnen nach dem Aufstehen und nach Wärmeanwendungen oder auch Gymnastik im warmen Wasser.

Zahnpflege. Bei trockenem Mund oder erschwerter Mundöffnung auf intensive Zahnpflege achten, da hier vermehrt Karies auftritt. Zwischendurch helfen zuckerfreie Kaugummis oder kleine Schlucke Wasser, am besten mit Zitronensaft.

Psychotherapie. Die systemische Sklerose mit all ihren Manifestationen ist eine sehr belastende Erkrankung. Betroffene sollten sich nicht scheuen, psychotherapeutische Unterstützung zu suchen. Das Erlernen und Anwenden von Entspannungsverfahren kann helfen, besser mit den Schmerzen und krankheitsbedingten Einschränkungen umzugehen.

Von: Dr. med. Sonja Kempinski
Zurück
Heiß und kalt gegen den Schmerz

Auch Eisbäder können in der physikalischen Therapie zur Behandlung von Erkrankungen genutzt werden.

Heiß und kalt gegen den Schmerz

Therapeutische Temperaturreize

Wärme und Kälte werden schon seit Jahrhunderten zur Behandlung von Schmerzen, Verletzungen und entzündlichen Erkrankungen eingesetzt. Inzwischen weiß man auch, dass Anwendungen wie Sauna und Kältekappen sogar vorbeugend wirken können. Doch was passiert dabei im Körper, welche Erkrankungen lassen sich damit behandeln und wann muss man mit extremen Temperaturreizen aufpassen?

Therapie mit Tradition

Unsere Vorfahren kannten sich mit der therapeutischen Wirkung von Wärme gut aus: Archäologische Funde belegen zum Beispiel, dass wärmende Kirschkernkissen schon vor dem 15. Jahrhundert genutzt wurden. Im alten Ägypten nahm man heiße Steine und Sandsäcke, um Schmerzen zu lindern. Die römischen Thermen waren berühmt für ihre Heilwirkung durch heißes Wasser und heiße Dämpfe. Und eine bestimmte Form der Wärmetherapie, das Moxa-Brennen, wird seit Jahrtausenden in der traditionellen chinesischen Medizin praktiziert.

Ähnlich sieht es mit Kälteanwendungen aus: Medizinische Texte aus der Zeit vor Christi Geburt dokumentieren Kältebehandlungen bei Verletzungen. Auch Hippokrates und Galen empfahlen Eis und kaltes Wasser für die Therapie von Prellungen und Entzündungen. Arabische Ärzte wie Avicenna propagierten im Mittelalter kalte Umschläge gegen Fieber.

Wärme- und Kälteanwendungen konnten auch durch die moderne Medizin nicht verdrängt werden. Sie sind auch heute ein wichtiger Bestandteil von Behandlungen. Im Rahmen der physikalischen Therapie werden Temperaturreize sowohl in traditioneller Weise, aber auch in neuen Anwendungsarten wie z.B. Kältekammern erfolgreich eingesetzt.

TRP-Kanäle reagieren auf Kälte und Wärme

Früher beruhte der Einsatz von Kälte und Wärme gegen Schmerzen auf Erfahrungsmedizin, also auf Beobachtungen von Patient*innen, die damit behandelt werden. Seit Kurzem verstehen Forschende jedoch genauer, warum Wärmepflaster oder Coolpacks schmerzlindernd wirken: In der Haut befinden sich Nervenfasern mit temperaturempfindlichen Rezeptorkanälen (TRP-Kanäle). Sie reagieren auf definierte Temperaturveränderungen. Durch ihre Reaktion werden verschiedene Vorgänge im Körper angestoßen.

Wärme aktiviert insgesamte vier TRP-Kanäle. Einer davon wird auch durch Capsaicin, einem Inhaltsstoff der Paprika angeregt. Die Aktivierung dieser Kanäle an den Nervenendigungen in der Haut löst drei Mechanismen aus:

  • Es kommt zur Stimulation von Nervenzentren im Gehirn, die wiederum schmerzlindernde Nervenbahnen im Rückenmark beeinflussen. Dadurch wird der Schmerz abgeschwächt.
  • Wo Pflaster oder Wärmekissen aufliegen, steigt die Temperatur im Gewebe. Dadurch wird die Durchblutung verbessert, was wiederum den Stoffwechsel ankurbelt und Heilungsprozesse beschleunigt.
  • Die Wärme macht auch das Bindegewebe elastischer. So erklärt man sich, dass Wärme die Beweglichkeit bei schmerzender Muskel- und Gelenksteifigkeit verbessert.

Auch für die Kälte gibt es TRP-Kanäle an den Nervenfasern. Zwei wurden bisher identifiziert: TRPA1 übermittelt bei Hauttemperaturen (nicht Außentemperaturen!) unter 17° C Signale an das Gehirn und ist damit an der Wahrnehmung extremer Kälte beteiligt. TRPM8 wird bei einer Hauttemperatur von 25-27° C aktiviert – und durch chemische Substanzen wie Menthol. Nach Aktivierung von Kältekanälen kommt es zu folgenden Reaktionen:

  • Schmerzleitende Signale werden abgeschwächt, das Schmerzempfinden deshalb vermindert.
  • Der Transkriptionsfaktor Nrf2 wird aktiviert. Dieses Protein reguliert bestimmte Gene in den Zellen und spielt eine Rolle bei entzündungshemmenden und zellschützenden Prozessen.
  • Durch das Sinken der Gewebetemperatur wird die Durchblutung gedrosselt. Dadurch gelangen weniger entzündungsfördernde Enzyme und Hormone in das Gewebe, Entzündungen werden dadurch gemildert.

Hinweis: Entdeckt wurden die TRP-Kanäle vom US-amerikanischen Sinnesphysiologen Prof. Dr. David Julius. Er hielt dafür im Jahr 2021 den Nobelpreis für Medizin.

Wo kommt Wärme zum Einsatz?

Wärme wird auf zweierlei Weise angewendet. Tradition hat die lokale Therapie, also die direkte Anwendung auf der Haut. Dies geschieht mithilfe von

  • Wärmeflaschen, elektrischen Wärmekissen oder in der Mikrowelle (früher auf dem Ofen) aufgeheizten Kirschkernkissen
  • Rotlicht und Fangopackungen
  • Wärmekompressen oder Wärmepflaster auf chemischer Basis, ohne spezielle Wirkstoffe
  • Wärmepflaster oder Wärmecremes/-salben mit speziellen Wirkstoffen wie Capsaicin, dem Capsaicin-Analogon Nonivamid oder gefäßerweiternden Substanzen (z.B.) Nicoboxil

Eine solche lokale Wärmetherapie ist bei verschiedenen Erkrankungen wirksam. Dazu gehört die Behandlung von Muskelkater und Rückenschmerzen, aber auch die Vorbeugung von nächtlichen Wadenkrämpfen. Ein weiteres Einsatzgebiet lokaler Wärme sind Schmerzen und Krämpfe im Rahmen der Menstruation. Dabei soll die Wärme auf Bauch und Unterleib ähnlich wirksam sein wie Schmerztabletten. Das beruht nicht nur auf einer Beseitigung von Muskelverspannungen. Die Wärme fördert auch die Durchblutung des Beckens. Dadurch werden Körperflüssigkeiten und Blut besser abtransportiert und der Druck auf Nervenbahnen im Becken nimmt ab.

Wärme kann außerdem bei der rheumatoiden Arthritis die Gewebeelastizität verbessern und dadurch die Gelenksteifigkeit reduzieren. Hierbei ist jedoch unbedingt zu beachten, dass Wärme nur in entzündungsfreien Phasen der Erkrankung angewendet wird. Ist die Krankheit aktiv, schadet Wärme. Denn durch die verbesserte Durchblutung wird die Entzündung weiter angetrieben.

Doch nicht nur lokale Wärme hat positive Wirkungen. Wird der ganze Körper in der Sauna aufgeheizt, wird das Herz-Kreislauf-System trainiert. Dadurch lernt der Körper, besser mit Hitze fertig zu werden. Außerdem reagiert er auf zellulärer Ebene schneller auf extreme Reize. Insgesamt werden antioxidative, entzündungshemmende und zellschützende Prozesse angestoßen. Infolgedessen verbessert sich die Funktion der Gefäßinnenhaut und das Risiko für Atemwegsinfekte sinkt.

Für manche Menschen ist Wärme als Therapie allerdings nicht geeignet. Patient*innen mit Diabetes mellitus leiden z. B. häufig an Nerven- oder Durchblutungsstörungen. Sie müssen mit Wärme besonders vorsichtig umgehen: Eine zu heiß befüllte Wärmeflasche kann bei gestörtem Schmerz- oder Temperaturempfinden leicht zu Verbrennungen führen. Gleiches gilt für Menschen, die aufgrund einer anderen Ursache an einer Nervenstörung leiden. Auch das Saunieren wird in einigen Situationen nicht empfohlen. Das gilt für Personen mit instabiler Angina pectoris, fiebriger Erkrankung oder verminderter Schweißbildung, aber auch für Patient*innen nach einem Herzinfarkt.

Hinweis: Wärmepflaster- und cremes mit und ohne pharmakologische Inhaltsstoffe sind in der Apotheke zu haben. Dort erhält man auch eine ausführliche Beratung, welche Form der Wärmeapplikation für die jeweiligen Beschwerden am besten geeignet ist.

Was Kälte alles kann

Die Kältetherapie hat ebenfalls seit je her zahlreiche Einsatzgebiete. Dazu gehören insbesondere

  • Akute Verletzungen wie Zerrungen und Prellungen. Durch die kältebedingte Verringerung der Durchblutung werden Schwellungen und Schmerzen reduziert.
  • Rheumatische Erkrankungen. Kälte führt im akuten, entzündlichen Stadium zu einem Rückgang der entzündlichen Reaktion und zu einer Verminderung von Gelenkschwellungen.
  • Schmerztherapie. Durch Verringerung der Durchblutung wird die Ansammlung von schmerzauslösenden Substanzen im Gewebe vermindert. Außerdem verlangsamt Kälte die Weiterleitung von Schmerzimpulsen entlang der Nervenbahnen.
  • Regeneration beim Sport. Kälteanwendungen können die Intensität und die Dauer von Muskelkater verringern.

Zum Kühlen gibt es neben dem klassischen Eiswürfelbeutel auch Sprays, Eislollys, Kältekompressen und Kühlgele.

Kältespray wird insbesondere bei Sportverletzungen, Prellungen und Verstauchungen eingesetzt. Dazu sprüht man es aus mindestens 20 cm Entfernung auf die Haut. Zu beachten ist dabei, dass zu langes Sprayen zu Erfrierungen führen kann.

Eislollys kommen vor allem bei Sehnenansatzschmerzen und in der Sportmedizin zum Einsatz. Man kann sie mit einem Joghurtbecher, Wasser und einem Holzspatel selbst herstellen. Sie werden mit kreisenden Bewegungen auf dem betroffenen Areal bewegt, wobei das Schmelzwasser kontinuierlich mit einem Handtuch aufzunehmen ist.

Kältekompressen helfen besonders gut bei Insektenstichen, stumpfen Verletzungen, Zahnschmerzen oder akuten Muskel- und Gelenkentzündungen. Es gibt sie als Gelkompressen (oder Cool-Packs), die im Eisfach gelagert und bei Bedarf auf die betroffene Stelle gelegt werden. Chemische Kompressen kühlen, nachdem der Innenbeutel durch Druck zum Platzen gebracht wurde. Für beide Arten gilt: Immer ein Tuch zwischen Haut und Kompresse legen, denn ein direkter Hautkontakt mit der konstanten Kälte kann zu Erfrierungen führen. Außerdem sollte in Intervallen, also nicht permanent gekühlt werden.

Kühlgel mit Menthol oder Alkohol erfrischt müde Füße, Arme und Beine. Es wird auf die Haut aufgetragen und leicht einmassiert. Für Kinder unter sechs Jahren sind solche Kühlgele nicht geeignet, weil sie die empfindliche Haut reizen. Schwangere sollte vor allem mentholhaltige Gele meiden. Das ätherische Öl kann vorzeitige Wehen auslösen.

Eine relativ neue Art der lokalen, also örtlichen Kälteanwendung ist die Kältekappe. Sie soll gegen den durch Chemotherapie ausgelösten Haarausfall helfen. Denn die Chemotherapie wirkt besonders auf Zellen, die sich schnell teilen: und das sind neben den Krebszellen auch die Haarfollikelzellen. Bei dieser vorbeugenden Therapie wird die Kopfhaut während der Chemo mit einer Spezialkappe gekühlt, in der -4° C kalte Flüssigkeit zirkuliert. Die Haarfollikelzellen fahren aufgrund der kältebedingt verringerten Hautdurchblutung ihren Stoffwechsel herunter und sind deshalb weniger anfällig für die Chemotherapeutika. In Studien mit Brustkrebspatientinnen konnte die Kältekappe bei der Hälfte der Frauen den Haarverlust auf weniger als 50% verringern. An einigen Kliniken wird dieses Scalp-Cooling bereits eingesetzt. Unklar ist allerdings noch, ob die herabgekühlte Kopfhaut nicht auch zirkulierende Tumorzellen schützt, die später zu einer Metastasierung führen könnten.

Neben den verschiedenen örtlichen Kälteanwendungen wird auch die Ganzkörper-Kältetherapie immer populärer. Dafür setzt man den Organismus in Kältekammern für wenige Minuten Temperaturen unter -100° C aus. Eine Alternative zu den Kammern ist das Eintauchen des Körpers bis zum Brustbein in 4° C kaltes Wasser. Von dieser Kältebehandlung verspricht man sich den Rückgang von Entzündungen und Schmerzen sowie eine bessere Regeneration nach sportlicher Belastung.

Nachgewiesen sind positive Effekte auf die rheumatoide Arthritis und auf die Fibromyalgie. Daneben soll der Kälteschock auch Psyche und Wohlbefinden verbessern, auf das Immunsystem wirken und das Körperfettgewebe beeinflussen. Wie die Ganzkörperkältetherapie wirkt, ist noch nicht völlig geklärt. Diskutiert werden u.a. die Freisetzung von Noradrenalin, die Abnahme entzündungsfördernder Botenstoffen und die Verlangsamung von Stoffwechselaktivitäten.

Hinweis: Genauso wie die Sauna ist auch die Ganzkörper-Kältetherapie nicht für alle Menschen geeignet. Weil dabei Blutdruck, Herz- und Atemfrequenz steigen, sollten Patient*innen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen vor solchen Kälteanwendungen immer ihre Ärzt*in konsultieren.

Quellen: Esch J, DAZ 2024; 15: 42; Morvilius S, Erfahrungsheilkunde 2022: 3: 153-157

Von: Dr. med. Sonja Kempinski; Bild: mauritius images / FotoHelin / Alamy Stock Photos