Gesundheit heute

Komplexes regionales Schmerzsyndrom (Morbus Sudeck)

Komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS) (Morbus Sudeck, Sudeck-Erkrankung, Kausalgie): Chronische Schmerzkrankheit, die nach (eventuell geringfügigen) Verletzungen oder Operationen an Armen oder Beinen auftritt. Typisch sind anhaltende, durch das Trauma nicht zu erklärende Schmerzen, die von zahlreichen Störungen begleitet werden, etwa von veränderter Schweißproduktion, Überwärmung, Schwellungen, Muskelabbau und Gelenkversteifungen. Im weiteren Verlauf drohen erhebliche Funktionseinschränkungen. Als Ursachen gelten Fehlsteuerungen bei der Weiterleitung und Verarbeitung von Schmerzreizen in Rückenmark und Gehirn.

Das Behandlungskonzept ist vielfältig, es kommen Medikamente gegen Nervenschmerzen sowie physiotherapeutische Verfahren zum Einsatz. Mithilfe der Spiegeltherapie können die veränderten Gehirngebiete wieder normalisiert werden. Für schwere, nicht beherrschbare Verläufe sind invasive Verfahren eine Option, dazu gehört beispielsweise das Einpflanzen eines Rückenmarkstimulators oder die Blockade des sympathischen Nervengeflechts.

Wird die Erkrankung frühzeitig erkannt und behandelt, ist die Prognose recht gut. Einmal aufgetretene Kontrakturen und Gelenkversteifungen lassen sich häufig nicht mehr rückgängig machen.

Symptome und Leitbeschwerden

  • Anhaltender, durch das Trauma nicht zu erklärender, häufig brennender Ruheschmerz
  • Manchmal auch Schmerzen nur unter Belastung
  • Schmerz- und/oder Berührungsüberempfindlichkeit, "falsches" Schmerzempfinden (Allodynie, z. B. Schmerzen beim Bestreichen der Haut mit einem Wattebausch)
  • Schwellung, Hautrötung, Überwärmung, vermehrtes oder vermindertes Schwitzen, später kalte, blasse Haut
  • Muskelzuckungen, Tremor (Zittern)
  • Verminderte Muskelkraft, steife Gelenke.

Wann zum Arzt

Am gleichen Tag, wenn

  • nach einer Verletzung oder Operation oben genannte Veränderungen auftreten.

Die Erkrankung

Das komplexe regionale Schmerzsyndrom (CRPS) entwickelt sich bei bis zu 5 % der Patient*innen, die eine Verletzung an Arm oder Bein haben oder dort operiert wurden. Frauen leiden häufiger darunter als Männer, der Erkrankungsgipfel liegt im mittleren Lebensalter. Arme und Hände sind doppelt so oft von einem CRPS betroffen als die unteren Gliedmaßen, besonders typisch ist die Erkrankung nach einem Speichenbruch in der Nähe des Handgelenks (d. h. bei einer distalen Radiusfraktur).

Einteilungen. Das CRPS wird in zwei Formen eingeteilt. Beim Typ I (entspricht der Sudeck-Erkrankung) finden sich die Beschwerden ohne nachweisbare Verletzung eines größeren, in Arm oder Bein verlaufenden Nerven. Das CRPS Typ II (früher Kausalgie genannt) entsteht dagegen aufgrund einer objektiv nachweisbaren Nervenschädigung. Eine weitere, klinische Einteilung ist die nach dem Aktivitätsgrad: Im Stadium der frischen, aktiven Entzündung mit Überwärmung sprechen Ärzt*innen oft von einem warmen CRPS. Beim "kalten CRPS" ist dagegen die Haut kalt, die Erkrankung hat die Phase der Entzündung schon hinter sich gelassen.

Ursachen und Risikofaktoren

Die genauen Gründe, warum sich bei manchen Menschen nach einer Verletzung oder Operation ein CRPS entwickelt, sind nicht bekannt. Vermutet wird eine Störung der Schmerzweiterleitung und -verarbeitung in Rückenmark und Gehirn. Als mögliche Ursache diskutieren Expert*innen eine überschießende Entzündungsreaktion, bei der sich im Blut erhöhte Spiegel eines bestimmten Stoffes finden lassen: dem Calcitonin-gene-related peptide, CGRP. Diese Entzündungsreaktion beginnt an der verletzten Stelle und breitet sich dann im gesamten Körper aus – so auch im Gehirn, wo CGRP die schmerzverarbeitenden Nervenzellen empfindlicher macht. Eine weitere, ältere Hypothese geht von einer Fehlfunktion des sympathischen Nervensystems aus. Dadurch ließen sich auch die vegetativen Folgen wie Schwitzen, Durchblutungs- und Ernährungsstörungen des Gewebes erklären.

Als Risikofaktoren für die Entwicklung eines CRPS gelten

  • Verletzungen, vor allem gelenknahe Brüche an Armen und Beinen, typisch ist die distale Radiusfraktur, und Nervenverletzungen
  • schmerzhafte Einrenkungsversuche bei Gelenkverrenkungen
  • langanhaltende Schmerzen bei Brüchen
  • therapeutische oder diagnostische Eingriffe (z. B. beim Karpaltunnelsyndrom)
  • einengende Verbände, zu enger Gips.

Verlauf

Die Erkrankung beginnt meist mehrere Wochen nach der Verletzung oder der Operation mit Ruheschmerzen, Schwellungen, Überwärmung und Berührungsempfindlichkeiten. Nach einigen Wochen oder Monaten schwillt die Gliedmaße ab und die Schmerzen bessern sich, allerdings kommt es aufgrund von Durchblutungsstörungen zum Gewebeabbau (Dystrophie): Die Haut wird dünner, blasst ab und fühlt sich kühl an, die Muskulatur wird schwächer und die Gelenke beginnen einzusteifen. Im weiteren Verlauf hat die Patient*in zwar keine Schmerzen mehr, aber Muskeln, Knochen und Weichteile bauen immer weiter ab. Am Ende ist das betroffene Gelenk durch verkürzte Sehnen, Muskeln und Bänder komplett eingesteift (Kontraktur) und die Gliedmaße gebrauchsunfähig.

Daneben gibt es Hinweise, dass bei CRPS-Patient*innen eine Körperschemastörung mit Veränderungen der betreffenden Hirnareale vorliegt Eine Körperschemastörung zeichnet sich dadurch aus, dass die Wahrnehmung des eigenen Körpers krankhaft verzerrt und für Außenstehende nicht nachvollziehbar ist. So finden sich Magersüchtige selbst dann noch viel zu dick, wenn sie objektiv längst untergewichtig sind.

Da die Beschwerden anfangs recht unspezifisch sind und oft (fälschlicherweise) mit der Verletzung in Verbindung gebracht werden, ordnet man sie in vielen Fällen erst Monate später dem richtigen Krankheitsbild zu. Dann ist es für eine vollständige Heilung meist zu spät, die Patient*in muss lebenslang mit den Funktionseinschränkungen zurechtkommen.

Diagnosesicherung

Den Verdacht auf ein CRPS schöpft die Ärzt*in durch die Schilderung der Beschwerden und die körperliche Untersuchung der Patient*in, unterstützt durch vorangegangene Ereignisse wie Verletzungen oder Operationen.

Für die Diagnose eines CRPS müssen folgende Kriterien erfüllt sein:

  • Anhaltende Schmerzen, die durch Verletzung oder Operation nicht zu erklären sind
  • Mindestens drei der folgenden Symptome in der geschilderten Krankengeschichte und zwei bei der körperlichen Untersuchung
    • Überempfindlichkeit gegen Schmerzen und/oder Berührung, "falsches" Schmerzempfinden (Allodynie). Typisch dabei ist, dass die Störungen der Sensibilität nicht eindeutig zu einem Nerv passen, so treten sie z. B. handschuhförmig auf
    • Veränderung der Hautfarbe und der Hauttemperatur
    • Vermehrtes oder vermindertes Schwitzen, Schwellung (Ödem) Hautfarbe
    • Eingeschränkte Beweglichkeit, Zittern, Muskelschwäche
    • Veränderungen von Haar- oder Nagelwachstum
    • Ausschluss anderer, ähnliche Beschwerden hervorrufender Erkrankungen (siehe Differenzialdiagnosen).

Im Zweifel zieht die Ärzt*in folgende technische Untersuchungen heran:

  • Messung der Hauttemperatur im Seitenvergleich (1°–2° C Unterschied sprechen für ein CRPS
  • Röntgen im Seitenvergleich, wobei sich eventuelle Veränderungen meist erst nach Monaten zeigen
  • Knochenszintigrafie, ebenfalls im Seitenvergleich, hier lassen sich die Veränderungen im Gegensatz zum Röntgen vor allem im Frühstadium, d. h. nach etwa 6 Wochen, erkennen
  • Kontrastmittelgestütztes MRT (zum Ausschluss anderer Erkrankungen wie beispielsweise Infektionen).

Differenzialdiagnosen. Je nach Beschwerdebild muss eine ganze Reihe anderer Erkrankungen ausgeschlossen werden, vor allem die tiefe Venenthrombose, Lymphabflussstörungen, Gefäßverschlüsse und Infektionen, aber auch Arthrosen, Arthritis, Gicht, Schleimbeutelentzündungen oder das Erysipel.

Behandlung

  • Die Behandlung eines CRPS gehört in die Hand einer erfahrenen Schmerztherapeut*in, um die erforderlichen Therapiemaßnahmen zu koordinieren und zu überwachen.

Medikamentöse Behandlung

  • Im Zentrum der Schmerztherapie stehen Wirkstoffe, die eine Neuropathie (also eine Nervenschädigung) positiv beeinflussen. Dazu gehören beispielsweise Gabapentin und Pregabalin. Manchmal verabreicht die Ärzt*in auch Ketamin als Infusion (das ist allerdings nur im Krankenhaus möglich). Zur Behandlung der Allodynie empfehlen manche Ärzt*innen eine lokale Therapie mit Dimethylsulfoxid-Salbe (DSMO) oder einer Salbenmischung mit Ambroxol.
  • In der Phase der akuten Entzündung wird auch kurzfristig Kortison verordnet. Bisphosphonate bremsen den Knochenabbau und werden deshalb in der Frühphase eines CRPS oft verordnet. Entweder als Tabletten (Alendronat) über 8 Wochen, alternativ auch intravenös, einmalig (Pamidronat) oder 10 Tage lang täglich (Clodronat).

Physiotherapie

Mit gezielten, nach abgestuftem Plan immer schwierigeren Bewegungen trainiert die Patient*in Beweglichkeit und Kraft der betroffenen Gliedmaße. Bei der "Pain exposure physical therapy" (PEPT) soll man gezielt an die Schmerzgrenze und etwas darüber hinausgehen, auch, um die Angst vor der Bewegung zu bekämpfen. Die Propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation (PNF) wiederum steigert Muskeltonus, Bewegung und Koordination.

In der Physiotherapie kommt zudem die Lymphdrainage zum Einsatz, da ein verbesserter Lymphabfluss Beweglichkeit und Stoffwechselprozesse vor Ort fördert.

Verhaltenstherapie

Zu den wichtigsten Verfahren zählt die Spiegeltherapie nach Ramachandran. Sie wurde ursprünglich zur Behandlung von Phantomschmerzen erfunden. Ist beispielsweise der Arm betroffen, platziert man den Spiegel so an der Körpermitte, dass sich der gesunde Arm spiegelt (der kranke liegt hinter dem Spiegel). Für das Gehirn entsteht die optische Illusion, der gespiegelte sei der kranke Arm. Wird nun der gesunde Arm mit einem Igelball oder Wattebausch berührt und kommt es dabei nicht zu krankhaften Schmerzempfindungen, glaubt das Gehirn, der kranke (gespiegelte) Arm sei gesund. Dadurch wird die Empfindlichkeit der Gehirnzellen herunterreguliert und normalisiert, in der Folge lösen beispielsweise normale Reize auch nur eine normale Reaktion und keinen Schmerz mehr aus. Genauso funktioniert dies mit Bewegungen. Wird der gesunde Arm der Patient*in bewegt, glaubt das Gehirn, beide Arme seien beweglich. Diese Illusion aktiviert bestimmte Hirnareale, was zur Rehabilitation und einer besseren Beweglichkeit beiträgt.

Invasive Verfahren

Die invasiven, in den Körper eingreifenden Verfahren wie z. B. Einspritzungen in das Gehirn oder das Einpflanzen einer Elektrode in das Rückenmark haben heute an Bedeutung verloren – zum einen, weil die Erkrankung inzwischen früher erkannt wird und deswegen besser therapierbar ist, zum anderen, weil beispielsweise die Spiegeltherapie gute Ergebnisse zeigt. Zudem sind die Erfolgsaussichten der invasiven Methoden unklar. Bei schweren, mit den genannten konservativen Behandlungsmöglichkeiten nicht beherrschbaren Fällen, sind sie dennoch eine Therapieoption.

  • Baclofen intrathekal. Das Einspritzen des Wirkstoffs Baclofen in das flüssigkeitsgefüllte Hohlraumsystem (Liquorraum) des Gehirns empfiehlt sich vor allem bei Dystonien (Verkrampfungen) im Rahmen des CRPS. Zeigt das Einspritzen eine Wirkung, besteht die Möglichkeit, dauerhaft einen kleinen Katheter zu legen und den Wirkstoff über eine Pumpe zu verabreichen. Diese Therapie ist aufwendig und reich an Komplikationen (z. B. Infektionen) und wird daher eher selten angewendet.
  • Spinal-cord-Stimulation (SCS). Hier wird das Rückenmark mithilfe einer eingepflanzten Elektrode gereizt. Es gibt niederfrequente und hochfrequente Verfahren, die auf unterschiedlichen Wegen beide zu einer Schmerzreduzierung führen. Empfohlen wird die SCS nur bei Betroffenen, die keine psychischen Begleiterkrankungen haben. Zudem lässt die Wirkung der SCS nach etwa 5 Jahren häufig nach.
  • Sympathikusblockaden. Bei dieser Methode spritzt die Ärzt*in ein lokales Betäubungsmittel in die Nervenknoten oder -geflechte des sympathischen Nervensystems. Durch die Blockade sollen die Schmerzen ausgeschaltet werden. Neueren Analysen zufolge ist diese Methode weniger erfolgreich als früher angenommen. Bei schweren Verläufen, die sich anders nicht beherrschen lassen, empfehlen die Leitlinien einen Versuch. Gespritzt wird dabei 2 bis 3 Mal pro Woche.
  • Ganglionäre Opioid-Analgesie. Hier wird das Opioid Buprenorphin an einen Nervenknoten gespritzt, und zwar an das Ganglion stellatum. Von diesem seitlich des ersten Brustwirbels liegenden Nervenknoten gehen Nervenstränge sternförmig in alle Richtungen ab. Dieses Verfahren ist noch nicht weit verbreitet, scheint aber den Schmerz gut zu reduzieren.

Prognose

Der Verlauf der Erkrankung ist individuell sehr verschieden. Es kommen Fälle von kompletter Ausheilung, aber auch bleibende, schwere Behinderung vor. Generell gilt: Je früher die Erkrankung erkannt und behandelt wird, desto besser ist die Prognose.

In einer kleinen Studie an 100 Patient*innen kam es bei über 80 % innerhalb mehrerer Jahre zu einer Besserung bis Ausheilung, gut 40 % hatten jedoch weiterhin Schmerzen unterschiedlichen Ausmaßes.

Ihre Apotheke empfiehlt

Was Sie selbst tun können

Keine Kälte oder Wärme! Auch wenn bei vielen schmerzhaften Erkrankungen Wärme oder Kälte helfen – beim CRPS sind sie fehl am Platz. Wärme und Kältebehandlungen verschlimmern die Erkrankung.

Umschläge. Gute Erfahrungen wurden mit Retterspitz-Umschlägen gemacht. Sie sollen die vegetative Entgleisung bremsen und vor allem hilfreich gegen die "falsche" Schmerzempfindung sein (Allodynie). Retterspitz-Flüssigkeit zum Herstellen von Umschlägen ist in der Apotheke erhältlich.

Psychotherapeutische Unterstützung. Chronische Schmerzerkrankungen wie das CRPS sind häufig von psychischem Druck und Ängsten begleitet. Hier ist eine spezielle Schmerzpsychotherapie empfehlenswert. Dazu gehören Entspannungs- und Imaginationsverfahren, der Abbau von Bewegungsängsten und die Behandlung eventuell begleitender Ängste und Depressionen.

Prävention

  • Vor allem bei geplanten Eingriffen oder bei der Behandlung von Verletzungen versuchen Ärzt*innen, einem CRPS mit folgenden Maßnahmen vorzubeugen:
    • Ausreichende Schmerzbehandlung bei Operationen, nach Brüchen und beim Einrenken
    • So kurze Operationszeiten wie möglich
    • Regionalanästhesie statt Vollnarkose (Beobachtungsstudie, keine randomisierten Studien)
    • Verband- und Gipskontrollen
    • Prophylaktische Gabe von Vitamin C bei Operationen an Hand oder Fuß über 50 Tage ab Op-Termin soll das CRPS-Risiko reduzieren.

Von: Dr. med. Sonja Kempinski
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Keine Chance der Migräne!

Migräne beeinträchtigt die Lebensqualität der Betroffenen erheblich.

Keine Chance der Migräne!

Behandeln oder vorbeugen

Wer unter einer Migräneattacke leidet, möchte erstmal nur eines: Dass sie schnell wieder verschwindet. Mit modernen Wirkstoffen gelingt das heutzutage in den meisten Fällen auch. Sind die Attacken besonders schwer oder besonders häufig, gibt es mehrere Möglichkeiten, ihnen vorzubeugen.

Volkskrankheit mit üblen Folgen

Die Migräne ist eine sehr häufige Kopfschmerzerkrankung: Weltweit sollen mehr als eine Milliarde Menschen darunter leiden. In Deutschland sind laut Robert Koch-Institut 15% der Frauen und 6% der Männer von Migräne betroffen, manche Fachleute gehen sogar von noch höheren Zahlen aus.

Die immer wiederkehrenden Migräne-Attacken sind gekennzeichnet durch einseitige, pulsierende Kopfschmerzen unterschiedlicher Stärke, die sich bei Bewegung oft verschlimmern. Vielfach gehen sie mit Übelkeit und Erbrechen einher, und viele Betroffene sind überempfindlich gegenüber Licht, Geräusche oder Gerüche. Die Anfälle dauern zwischen vier Stunden und drei Tage. Auch die Häufigkeit der Migräneanfälle variiert erheblich: Manche Menschen haben nur wenige Attacken im Jahr, manche mehr als 15 Migränetage im Monat (dann spricht man von einer chronischen Migräne).

Bis zu 30% der Betroffenen erleben zusätzlich zu den Kopfschmerzen auch Auraphänomene. Eine Aura ist eine im Gehirn ausgelöste, sich wellenförmig über die Hirnrinde ausbreitende Nervenzellaktivität. Sie macht sich bemerkbar durch beidseitiges Doppeltsehen oder andere Sehstörungen wie

  • Einschränkungen des Gesichtsfelds, d.h., das Sehfeld wird kleiner und das räumliche Sehen erschwert
  • Flimmersehen
  • blendende, sich ausbreitende Kreise oder Vierecke sowie
  • Lichtblitze oder Sterne vor den Augen.

Weitere mögliche Auraphänomene sind Probleme beim Sprechen, Tinnitus, Schwindel oder Bewusstseinsstörung. In seltenen Fällen leiden Migränepatient*innen auch nur unter Auraphänomenen, ohne dabei Kopfschmerzen zu haben.

Migräne ist eine überaus belastende chronische Erkankung. Die Lebensqualität der Betroffenen ist durch die Attacken oft stark eingeschränkt, viele müssen aufgrund der Anfälle immer wieder Verabredungen und Termine absagen und ziehen sich aus dem sozialen Leben zurück.

Hinweis: Nicht nur die persönlichen, auch die sozioökonomischen Folgen der Erkrankung sind enorm. Durch Migräne gehen jährlich etwa 1,9 Milliarden Arbeitsstunden verloren. Insgesamt kostet das die deutsche Volkswirtschaft durchschnittlich 146 Milliarden Euro Wertschöpfung pro Jahr.

Wo kommt die Migräne her?

Ganz sind die Vorgänge hinter den Migräneattacken noch nicht geklärt. Dreh- und Angelpunkt scheint aber die Freisetzung verschiedener Botenstoffe im Gehirn zu sein. Dazu gehören das vasoaktive intestinale Peptid (VIP), die Schmerzsubstanz P und das Calcitonin-Gene-Related Peptide (CGRP). Diese sorgen dafür, dass sich die Blutgefäße in den Hirnhäuten entzünden. Weil die Blutgefäße mehr durchblutet werden, muss sich die entzündete Gefäßwand dehnen. Das wiederum wird im Gehirn als pulsierender Kopfschmerz wahrgenommen.

Heute geht man davon aus, dass die Migräne auf einer genetischen Veranlagung beruht. Vererbt ist also, dass die Nervenzellen der Patient*innen auf bestimmte Reize oder Zustände mit einer Migräneattacke reagieren. Häufige Auslöser sind Aufregung, Stress und Schlafmangel. Es gibt aber individuell viele weitere Trigger, dazu gehören z.B.

  • Lebensmittel (z.B. Kaffee, Cola, Alkohol, Schokolade und Käse)
  • Zeitverschiebungen und Veränderungen des Schlaf-Wach-Rhythmus
  • Wetterumschwünge, Föhnwetter
  • Hormoneinnahme (z.B. die Pille)
  • Gerüche, z.B. Zigarettenrauch, Parfüm oder Lösungsmittel
  • ungewohnte körperliche Anstrengung
  • Weglassen von Mahlzeiten
  • Lichtreize von außen wie flackerndes Licht oder Neonlicht.

Hinweis: Bei empfindlichen Personen kann der plötzliche Wechsel zwischen Arbeitsstress und Entspannung Migräneanfälle auslösen. Dieses Phänomen ist unter der Bezeichnung „Feiertagsmigräne“ bekannt.

Akute Attacke bekämpfen

Ruhe und das Abschirmen von äußeren Reizen sind die ersten Maßnahmen bei einer akuten Migräne. Medikamentös gibt es verschiedene Optionen, die zum Teil ärztlich verschrieben werden müssen. Oft haben die Betroffenen erst nach einigen Versuchen „ihr“ Migränemedikament identifiziert. Das wichtigste ist dann, bei einer Attacke so früh wie möglich und hochdosiert zu behandeln.

Schmerzmittel. Leichte bis mittelschwere Attacken lassen sich häufig mit nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) beherrschen. Günstig sind Brausetabletten, weil der Körper den in Wasser gelöste Wirkstoff schnell aufnimmt. Empfohlen werden z.B. 1000 mg Acetylsalicylsäure (ASS) oder 200 – 600 mg Ibuprofen, jeweils als Einmalgabe. Wer keine NSAR nehmen darf, kann sich mit Paracetamol behelfen. Auch empfohlen, aber etwas weniger wirksam sind Diclofenac-Kalium-Kombinationen oder Kombinationspräparate mit ASS, Paracetamol und Koffein.

Triptane. Bei mittelschweren bis schweren Migräneattacken sind Triptane die Therapie der Wahl. Das Gleiche gilt, wenn die Kopfschmerzen nicht auf die oben genannten Schmerzmittel ansprechen. Triptane verengen die erweiterten Gefäße wieder. Außerdem hemmen sie die entzündungsfördernden Botenstoffe und die Weiterleitung von Schmerzimpulsen in den Nerven. In Deutschland sind sechs Triptane zugelassen, sie werden als Tabletten, Nasenspray, Zäpfchen oder als Spritze verabreicht. Am schnellsten und stärksten soll gespritztes Sumatriptan wirken. Zum Schlucken sind laut Migräneleitlinie Eletriptan und Rizatriptan am schnellsten wirken. Naratriptan und Almotriptan sind als Tabletten auch rezeptfrei verfügbar.

Die Einnahme von Triptanen sollte nur nach Rücksprache mit der behandelnden Ärzt*in erfolgen. Da sie an Gefäßen verengend wirken, sind sie für Menschen mit Gefäßerkrankungen tabu. Sie kommen also zum Beispiel nicht in Frage bei koronarer Herzkrankheit, peripherer Verschlusskrankheit (pAVK) oder Bluthochdruck. Auch während der Schwangerschaft und Stillzeit sollten Triptane nicht eingesetzt werden.

Neue Medikamente. Auch für Menschen, bei denen Triptane keine Besserung bringen, gibt es dank neuer Wirkstoffe Hoffnung. Rimegepant blockiert den CGRP-Rezeptor, und verhindert damit, dass der entzündungsfördernde Botenstoff CGRP an den Gefäßen andocken kann. Lasmiditan wirkt ähnlich wie Triptane, verengt aber die Gefäße nicht. Es könnte deshalb auch für Patient*innen mit Gefäßerkrankungen eine Option sein. Beide Wirkstoffe sind in Deutschland aber leider noch nicht erhältlich (Stand Januar 2023).

Hinweis: Manchmal hilft es auch, Migränemittel nach ärztlicher Rücksprache zu kombinieren. Möglich ist beispielsweise die Kombination aus Triptan und einem lang wirkenden NSAR wie Naproxen.

Akute Migräne alternativ lindern

Neben Triptanen und Schmerzmitteln gibt es auch nicht-medikamentöse Verfahren, mit denen sich eine akute Migräneattacke lindern lässt:

  • Durch ein spezielles Blut-Volumen-Puls-Biofeedback können Migränepatient*innen lernen, akuten Attacken Einhalt zu gebieten. Dabei wird im schmerzfreien Intervall mithilfe eines kleinen Sensors an der Schläfe gezielt trainiert, die Schläfenarterie zu verengen.
  • Ebenfalls erfolgreich bei der Behandlung von Migräneattacken ist die Stimulation des Nervus trigeminus. Dazu klebt man eine Reizelektrode auf die Stirn und koppelt einen kleinen Impulsgeber für etwa eine Stunde magnetisch an.
  • Manchen Betroffenen hilft auch die Akupunktur im akuten Anfall. Nicht aller Studien konnten hier aber tatsächlich einen Effekt nachweisen.

In einigen Fällen lassen sich Migränekopfschmerzen und ihre Nebenerscheinungen überhaupt nicht selbst beherrschen. Ein solcher Zustand gilt als Notfall, der in ärztliche Hände gehört.

Hinweis: Gegen die begleitende Übelkeit helfen Metoclopramid und Domperidon. Diese Präparate haben auch den Vorteil, dass sie den Magen beruhigen und dadurch die Aufnahme geschluckter Schmerzmittel und Triptane verbessern.

Vorbeugender Lebensstil

Generell profitieren Patient*innen mit Migräne von einem achtsamen Lebensstil. Dazu gehören etwa das regelmäßige Üben von Entspannungsverfahren oder das Achtsamkeitstraining. Auch die kognitive Verhaltenstherapie soll Betroffenen helfen, die Migräne und die damit verbundenen Belastungen zu reduzieren. Wer seine Trigger (siehe oben) kennt, kann diese meiden und dadurch Migräneattacken vorbeugen.

Eine weitere sehr effektive Vorbeugungsmaßnahme ist regelmäßiger Sport. Dabei ist jede Bewegung von Vorteil. Besonders gut scheinen aber regelmäßiges Krafttraining und begleitendes Ausdauertraining zu wirken.

Hinweis: Mit Nahrungsergänzungsmitteln lässt sich – obwohl häufig propagiert – wenig gegen Migräneattacken ausrichten. Es gibt jedoch Hinweise, dass bestimmte Ernährungsweisen hilfreich sein können. Dazu gehört vor allem der Verzicht auf Zucker und Fett, evtl. auch die ketogene Diät.

Migräneprophylaxe mit Medikamenten

Bei sehr stark betroffenen Patient*innen kann es sinnvoll sein, der Migräne durch die dauerhafte Einnahme von Medikamenten vorzubeugen. Das ist etwa der Fall bei mehr als drei Attacken pro Monat, bei besonders schweren und langen Anfällen oder wenn die Akuttherapie nicht hilft. Die Präparate können – jeweils in unterschiedlichem Ausmaß - die monatlichen Migränetage reduzieren. Zu einer kompletten Migränefreiheit führt keines der Präparate, es verlängern sich nur die Pausen zwischen den Attacken.

Wichtig zu wissen: Es dauert oft einige Zeit, bis die Prophylaxe greift. Zur endgültigen Beurteilung der sollte man deshalb mindestens drei Monate abwarten, bei chronischer Migräne empfehlen Fachleute auch einen Therapieversuch über bis zu sechs Monaten.

Die Dauer der Prophylaxe variiert individuell je nach Ausmaß der Beschwerden und der verwendeten Substanz. Flunarizin soll beispielsweise nicht länger als sechs Monate eingenommen werden. Alle anderen Wirkstoffe werden mindestens neun Monate lang gegeben. Danach ist ein Auslassversuch möglich, d.h. man setzt das Medikament wieder ab und beobachtet, ob die Patient*in auch ohne die vorbeugende Therapie auskommt.

Welches Präparat am besten geeignet ist, entscheiden Betroffene und Ärzt*in gemeinsam. Wichtig sind dabei auch eventuelle Begleiterkrankungen. Leidet die Patient*in z.B. an Bluthochdruck, gibt man häufig Betablockern den Vorzug. Besteht zusätzlich eine Depression, versucht man es gern mit Antidepressiva. Bei Migräne und Epilepsie bieten sich dagegen Antiepileptika wie Valproinsäure an.

Traditionelle Migräneprophylaktika. Zu den Klassikern gehören Betablocker, vor allem Propanolol und Metoprolol. Daneben werden auch Flunarizin, das Antidepressivum Amitryptilin, und die Antiepileptika Topiramat und Valproinsäure zur Prophylaxe der Migräne eingesetzt. Eine weitere Option ist die Injektion des muskelentspannenden Wirkstoffs Onabotulinumtoxin (Botox) in bestimmte Bereiche der Schädelmuskulatur.

Antikörper gegen CGRP. Seit einigen Jahren gibt es Antikörper, die den Botenstoff und „Migräneverursacher“ CGRP oder dessen Rezeptor hemmen. Zugelassen zur Migräneprophylaxe sind inzwischen vier Wirkstoffe. Sie alle sind laut Migräneleitlinie gut verträglich und wirksamer als ein Scheinmedikament. Erenumab, Fremanezumab und Galcanezumab werden unter die Haut gespritzt, ihre Wirkung setzt meist nach bis zu zwei Wochen ein. Eptinezumab gibt die Ärzt*in direkt in die Vene, sein Vorteil ist deshalb eine etwas schnellere Wirksamkeit.

Etliche Menschen dürfen diese Antikörper allerdings nicht einnehmen. Dazu gehören diejenigen mit Gefäßerkrankungen wie koronare Herzerkrankung, Schlaganfall, pAVK (periphere arterielle Verschlusskrankheit, auch Schaufensterkrankheit genannt) oder einem Morbus Raynaud. Auch bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen und obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) sind die Antikörper kontraindiziert. Schwangere, Stillende oder Frauen, die nicht (ausreichend) verhüten, dürfen das Medikament ebenfalls nicht erhalten.

Rimegepant. Rimegepant kann Migräneattacken möglicherweise ebenfalls vorbeugen, so die aktuellen Migräneleitlinien. Sein großer Vorteil: Das Medikament muss nicht gespritzt, sondern kann einfach geschluckt werden. Wo sich die zugelassene, aber in Deutschland noch nicht erhältliche (Stand Januar 2023) Substanz in der Praxis einreiht, ist allerdings noch ungewiss.

Vergleichsstudien, welches Präparat am besten wirkt, gibt es kaum. In einer Studie erwies sich Erenumab als effektiver und besser verträglich als Toparimat. In einer anderen Studie waren Propanolol und Topiramat vergleichbar effektiv zur Vorbeugung bei chronischer Migräne. Rimegepant wiederum soll etwas weniger wirksam sein als Migräne-Antikörper. Letztendlich wird ebenso wie bei der Therapie der akuten Migräne die Patient*in durch Therapieversuche herausfinden, welches Präparat für sie am geeignetsten ist.

Hinweis: Ein wichtiges Instrument zur Beurteilung von Therapieerfolg und Krankheitsaktivität ist das Kopfschmerztagebuch. Dafür gibt es inzwischen als praktische Variante auch zahlreiche Apps fürs Smartphone.

Nervenblockaden und Muskeldurchtrennung

Wenn Medikamente zur Vorbeugung gegen chronische Migräne nicht helfen, kann man auch direkt auf die schmerzleitenden Nerven einwirken (interventionelle Verfahren). Die Ärzt*innen blockieren die Nerven z.B, indem sie in unmittelbarer Nähe lokale Betäubungsmittel oder Kortison spitzen. Manchmal entscheiden sich die Ärzt*innen aber auch dazu, die Nerven elektrisch zu stimulieren. Weitere Verfahren wie die Durchtrennung perikranieller (den Schädel umgebender) Muskeln oder das Einpflanzen stimulierender Elektroden in bestimmte Gehirnregionen (z.B. das Ganglion sphenopalatinum) werden heute nicht mehr empfohlen.

Quelle: Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne, S1-Leitlinie, 2022, DGN und DMKG

Von: Dr. med. Sonja Kempinski; Bild: Ground Picture/shutterstock.com