Gesundheit heute

Mythos Früherkennung?

Früherkennung erscheint als eine vernünftige Strategie: sich regelmäßig durchchecken zu lassen, bevor Beschwerden auftreten. Ist der Befund gut, sind wir beruhigt, wird etwas entdeckt, lässt es sich im frühen Stadium sicher besser behandeln als später. Tatsache aber ist, dass das beim Auto bewährte TÜV-Prinzip beim Menschen nicht immer funktioniert.

Unabhängig davon, dass mit Früherkennung heute viel Geld verdient wird und wirtschaftliche Aspekte die medizinische Nutzendiskussion erheblich überlagern, wohnt der Früherkennung eine unvermeidliche wissenschaftliche Problematik inne:

  • Zum einen haben manche der verwendeten Tests Nebenwirkungen, man denke hier an die zwar geringe, aber messbare Strahlenbelastung bei der Mammografie. Durch neue digitale Röntgengeräte wird dieses Risiko weiter in den Hintergrund rücken. Das Risiko der Verschleppung und Ausbreitung von Krebszellen durch Feinnadelpunktionen in verdächtige Gewebebezirke aber ist bisher nicht gelöst.
  • Zum anderen sind wir natürlich in Sorge, bis der Befund vorliegt. Während sich dies verschmerzen lässt, ist es weitaus unangenehmer, wenn uns ein Früherkennungstest fälschlicherweise eine Krankheit meldet, die wir gar nicht haben. Solche Überdiagnosen (falsch-positive Fehldiagnosen) rauben uns nicht nur den Schlaf, sondern ziehen auch Tests und Eingriffe nach sich, die mit weiteren Risiken verbunden sind. So empfiehlt z. B. die amerikanische Krebsgesellschaft die von ihr jahrzehntelang propagierte Selbstuntersuchung der Brust inzwischen nicht mehr, da die Untersuchung anscheinend keinerlei Einfluss auf die Sterblichkeitsrate hat.
  • Ein weiteres Problem ist die Irrelevanz von entdeckten Krankheitsfällen, wenn z. B. ein Krebs entdeckt wird, der so langsam wächst, dass er in der Lebensspanne des Patienten gar nicht aufgefallen wäre. Dies ist vor allem bei der Früherkennung von Prostatakrebs ein Problem.

Eine Begleiterscheinung der Früherkennung ist: Um eine schwerwiegende Erkrankung bei wenigen Menschen frühzeitig zu erkennen, wird eine große Anzahl von Menschen jahrelang untersucht. Durch diese Untersuchungen werden einige von ihnen verängstigt und manchmal sogar unnötigerweise behandelt. Deshalb sollte Früherkennung innerhalb eines qualitätsgesicherten Programmes stattfinden und durch die konsequente Evaluation, die Anzahl der „überflüssig Behandelten“, „Verängstigten“ und durch die Früherkennungsmaßnahme möglicherweise Geschädigten so klein wie möglich zu halten. Darüberhinaus muss ein Früherkennungsprogramm den Beweis seines Nutzens antreten. Hier geht es um die Senkung der Sterblichkeit und die positiven Folgen einer schonenderen Therapie bei den Betroffenen. 

Dies zeigt auch folgende Statistik aus dem British Medical Journal: Um einen einzigen Todesfall durch Gebärmutterhalskrebs zu verhindern, müssen etwa 1 000 Frauen 35 Jahre lang zur Früherkennung gehen. 150 von diesen Frauen bekommen einen Verdacht auf Gebärmutterhalskrebs bescheinigt, und etwa 50 von diesen werden überflüssigerweise operiert [402].

Diese Zahlen sprechen natürlich nicht grundsätzlich gegen die Früherkennungsstrategie, zeigen aber, wie kompliziert es ist, Vor- und Nachteile abzuwägen und im Einzelfall für oder gegen eine Früherkennungsuntersuchung zu argumentieren.

Ein interessantes Bild ergibt sich beispielsweise für das Mammographie-Screening. Wenn Frauen zwischen 50 und 69 Jahren an einem zweijährigen qualitätsgesicherten Mammographie Screening teilnehmen, kann folgende Senkung der Sterblichkeit erreicht werden (Quellen 1, 2, 3):
Bei 1000 Frauen die 20 Jahre gescreent werden, sind 65 Brustkrebserkrankungen zu erwarten. 15 Frauen sterben an der Erkrankung. Für Screening-Teilnehmerinnen kann erwartet werden, dass 5 dieser 15 Todesfälle verhindert werden. Damit sterben 30% der erkrankten Frauen weniger, als ohne ein Screeningprogramm. Anders gesagt bedeutet das: ein zweijähriges Screening rettet ca. 1 Leben von 200 Teilnehmerinnen.

Trotz Fortschritten in der Therapie ist die Brustkrebsbehandlung mit mehr oder minder schweren Mittel- und Langzeiteffekten wie z.B. Schmerzen oder Lymphödem verbunden. Bei den meisten Frauen mit Brustkrebs ermöglicht eine frühe Diagnose eine weniger aggressive Behandlung. Das wiederum bedeutet weniger Angst und Nebenwirkungen. Konkret heißt das

  • Weniger Brustamputationen. Früh erkannte Tumore werden meist brusterhaltend behandelt.
  • Weniger Chemotherapien. Früh erkannte Tumore lassen sich oft nur mit Skalpell und Bestrahlung therapieren. Für die meisten Frauen ist das ein entscheidender Vorteil einer Früherkennung.
  • Weniger Achselhöhlen-Operationen. Früh erkannte Tumore haben meist noch nicht in die Lymphknoten gestreut.
  • Bessere kosmetische Ergebnisse. kleinere Tumore lassen sich besser entfernen. Allerdings muss man sich auch vor Augen führen, dass die Chirurgie einer nicht tastbaren Veränderung eine größere Herausforderung darstellt, als die von größeren tastbaren Tumoren.

Daran wird offensichtlich, dass einem qualitätsgesicherten Screening eine qualitätsgesicherte Therapie folgen muss. Nur wenn beides der Fall ist, können die potentiellen Vorteile einer Früherkennung voll ausgeschöpft werden.

Quellen:

1.    Duffy SW, Tabar L, Olsen AH, et al. Absolute numbers of lives saved and overdiagnosis in breast cancer screening, from a randomized trial and from the Breast Screening Pro¬gramme in England. J Med Screen 2010;17(1):25–30
2.    van Schoor G, Moss SM, Otten JD, et al. Increasingly strong reduction in breast cancer mortality due to screening. Br J Cancer 2011; 104(6):910–914
3.    Euroscreen Working Group. Summary of the evidence of breast cancer service screening outcomes in Europe and first estimate of the benefit and harm balance sheet. J Med Screen 2012;19(Suppl 1):5–13]]

Von: Dr. med. Herbert Renz-Polster in: Gesundheit heute, herausgegeben von Dr. med. Arne Schäffler. Trias, Stuttgart, 3. Auflage (2014).
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Kurz-Therapie gegen Spritzenphobie

Für Menschen mit einer Spritzenphobie sind Impfungen eine Qual.

Kurz-Therapie gegen Spritzenphobie

Angst vor der Impfung?

Manche Menschen haben so panische Angst vor Spritzen, dass sie auf Impfungen lieber verzichten. Eine neue Kurzzeit-Therapie des Max-Planck-Instituts soll gegen die Spritzenphobie helfen – und damit die Covid-19-Impfung ermöglichen.

Extreme Ängste, oft auch Ohnmacht

Bei der Spritzenphobie handelt es sich nicht um ein bisschen Angst vor einer Spritze: Blutabnahmen oder Impfungen lösen bei den Betroffenen extreme Ängste und Stress, manchmal sogar Ohnmachten aus. Etwa 20 bis 30% aller Kinder und jungen Erwachsenen leiden daran, in der gesamten Bevölkerung geht man von etwa 3% Spritzenphobiker*innen aus.

Die Spritzen- oder auch Trypanophobie hat für die Betroffenen erhebliche Konsequenzen. Arztbesuche werden vermieden und dadurch Krankheiten verschleppt sowie nötige Therapien oder Vorsorgemaßnahmen verhindert. Darunter auch die Coronaimpfungen. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 5% aller Erwachsenen die Impfung wegen einer Spritzenphobie ablehnen.

Sechs Sitzungen, Kasse zahlt

Gegen die Spritzenphobie hat das Max Planck-Institut (MPI) für Psychiatrie in München ein Verhaltenstherapeutisches Kurzinterventionsprogramm entwickelt. Es besteht aus ca. sechs Sitzungen. Zunächst geht es darin um Informationen über die Erkrankung, das Entstehungsmodell einer Spritzenphobie und individuelle Auslöser. Dann werden die Patient*innen mit dem angstmachenden Ereignis konfrontiert. Dabei zeigt man ihnen Fotos und Videos und gibt ihnen Spritzen in die Hand. Außerdem wird ihnen in den Finger gestochen und sie müssen bei Blutentnahmen zusehen. Schließlich erfolgt im letzten Schritt eine Blutentnahme oder eine Impfung. Nach Besprechung des Lernerfolgs bekommen die Patient*innen noch weitere Übungen mit auf den Weg. Beim Nachsorgetermin werden die Übungen und eventuelle Rückfälle besprochen.

Die Kurzzeittherapie vertreibt zwar meist nicht die Angst vor der Spritze – die Betroffenen lernen aber, damit besser umzugehen. Die Erfolge sprechen für sich: 90% der Teilnehmer haben das Programm bisher mit einer Impfung oder einer Blutentnahme verlassen, berichtet Professor Angelika Ehrhard vom MPI. Die Kosten für die Therapie übernehmen die Krankenkassen. Quellen: MPI, Ärztezeitung

Von: Dr. med. Sonja Kempinski; Bild: SeventyFour/shutterstock.com