Gesundheit heute
Myasthenia gravis
Myasthenia gravis: Autoimmunerkrankung, die durch eine gestörte Erregungsübertragung vom Nerv auf den Muskel mit der Folge einer Muskelschwäche gekennzeichnet ist. Zu Beginn kommt es oft zu Doppelbildern, Herabhängen des Oberlids, Kau- und Schluckbeschwerden oder näselnder Sprache. Es gibt verschiedene Formen, an der (häufigsten) Variante mit spätem Krankheitsbeginn erkranken vor allem Männer, an den Varianten mit einem Krankheitsbeginn vor dem 50. Lebensjahr häufiger Frauen.
Behandelt wird die Myasthenie mit Medikamenten, die die neuromuskuläre Signalübertragung verbessern, Immunsuppression und in vielen Fällen zusätzlich operativ durch Entfernung des Thymus. Die Prognose ist heute überwiegend gut.
Symptome und Leitbeschwerden
- Unnatürlich schnelle Ermüdbarkeit der Muskulatur, die im Tagesverlauf oder unter Stress zunimmt
- Sehen von Doppelbildern
- Herabhängendes Oberlid
- Störungen beim Schlucken und Sprechen
- Schwierigkeiten beim Heben des Armes oder Schwäche beim Halten des Kopfes.
Wann zur Arztpraxis
Sofort, wenn sich bei bekannter Myasthenie-Erkrankung
- die Muskelschwäche akut verschlechtert und Atem- oder Schluckstörungen auftreten.
In den nächsten Tagen, wenn
- sich die oben genannten Beschwerden entwickeln.
Die Erkrankung
Krankheitsentstehung
Um Signale von Nerven empfangen zu können, hat der Muskel spezielle Kontaktstellen, die Acetylcholinrezeptoren, an denen der aus dem Nervenende ausgeschüttete Überträgerstoff "andockt". Bei der Myasthenia gravis bildet der Körper aus noch ungeklärter Ursache Abwehrstoffe (Autoantikörper) gegen diese Rezeptoren. Diese sogenannten Anti-Acetylcholinrezeptor-Antikörper (Anti-AChR-Antikörper) docken an die Rezeptoren an und blockieren diese. Dadurch erreicht das als Befehl zur Kontraktion ausgeschüttete Acetylcholin den Muskel nicht mehr, was zu einer schnellen Muskelermüdung bis hin zur Muskellähmung führt.
Neben den Anti-Acetylcholinrezeptor-Antikörpern gibt es weitere, gegen andere Strukturen des Muskels gerichtete Antikörper. Diese dienen zur Unterscheidung der verschiedenen Formen der Myasthenie (siehe unten). Manche Myasthenieformen werden auch als "seronegativ" bezeichnet, weil sich bei ihnen (noch) keine Autoantikörper nachweisen lassen.
Klinik und Formen
Die Erkrankung beginnt bei zwei Dritteln der Patient*innen mit Doppelbildern (durch Augenmuskelschwäche) und Herabhängen des Augenlids, oft gehören auch Schluck- und Sprechstörungen zu den ersten Beschwerden. Später kommt es je nach Form zu Schwäche von Armen und Beinen, zu einer Kopfhalteschwäche, in schweren Fällen ist auch die Atemmuskulatur betroffen und die Patient*innen entwickeln Luftnot. Typischerweise nimmt die Muskelschwäche im Verlauf des Tages und in Stresssituationen zu.
- Myasthenia gravis mit spätem Krankheitsbeginn (Late-onset Myasthenia gravis, LOMG). Diese Form betrifft vor allem Männer über 50 Jahren, sie ist mit 45 % der Myasthenie-Fälle die häufigste Variante. Die muskuläre Ermüdung ist generalisiert, d. h. sie breitet sich auf den ganzen Körper aus. Neben dem Haupt-Autoantikörper Anti-AChR-Antikörper kommen häufig weitere Antikörper gegen muskuläre Strukturen vor.
- Myasthenia gravis mit frühem Krankheitsbeginn (Early-onset Myasthenia gravis, EOMG). An dieser zu etwa 20 % auftretenden Variante erkranken vor allem Frauen unter 50 Jahren. Auch die EOMG verläuft generalisiert. Bei der EOMG lassen sich vor allem Anti-AChR-Antikörper nachweisen.
- Okuläre Myasthenia gravis (OMG, etwa 15 % der Myasthenien). Diese Form betrifft in erster Linie die Augen. Es erkranken insbesondere Frauen, und zwar in jedem Lebensalter. Bei bis zu 70 % der Patienten sind Anti-AChR-Antikörper nachweisbar.
- Thymom-assoziierte Myasthenia gravis (TAMG, etwa 15 %der Myasthenien). Diese Variante ist mit der Vergrößerung der Thymusdrüse am Hals verbunden. Es lassen sich neben dem typischen Anti-AChR-Antikörper zahlreiche weitere Antikörper nachweisen. Betroffen sind Männer und Frauen gleichermaßen, die Erkrankung beginnt zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr und verläuft generalisiert. Bei dieser Variante entfernen die Ärzt*innen häufig den Thymus.
Anti-MuSK-AK-assoziierte Myasthenia gravis (MAMG). Seltene (5 % der Myasthenien), vor allem jüngere Frauen betreffende Variante mit dem Antikörper gegen die muskelspezifische Tyrosinkinase (einem für die Signalübermittlung an der motorischen Endplatte wichtigem Enzym). Bei dieser Form kommt es vor allem zu Augenbeschwerden (Doppelbilder, Herabhängen des Augenlids), zu Schluckstörungen und zu schlaffen Gesichtszügen aufgrund des Befalls der mimischen Muskulatur.
Diagnosesicherung
Die Diagnostik beginnt mit Belastungstests, um eine schnelle Ermüdung der Muskulatur festzustellen. Dazu dienen z. B. Armhalteversuche, bei denen die Arme nach vorn ausgestreckt gehalten werden und nach kurzer Zeit durch die Muskelschwäche absinken. Mithilfe weiterer Halteversuche des Kopfes und der Beine sowie der Prüfung des Lidhebers, der Mimik, der Kaumuskulatur und der Atmung bestimmen die Ärzt*innen außerdem den Schweregrad der Erkrankung (Besinger-Score), um den Verlauf und das Ansprechen einer Therapie dokumentieren zu können.
In Blutuntersuchungen werden manchmal Antikörper gegen den Acetylcholinrezeptor oder gegen andere Proteine nachgewiesen, um die Diagnose zu stützen.
Die Elektromyografie zeigt eine typische Abnahme der elektrischen Aktivität von Muskeln bei einer wiederholten Reizung.
Pharmakologische Tests. Beim Edrophonium-Test spritzen die Ärzt*innen probeweise intravenös das Medikaments Edrophoniumchlorid. Es bessert bei Myasthenia gravis die Symptomatik innerhalb von 60 Sekunden. Um die Wirkung dokumentieren zu können, wird die Patient*in meist vor und nach Gabe des Mittels fotografiert. Bei älteren Patient*innenen verwenden die Ärzt*innen statt Edrophonium häufig Pyridostigmin in Tablettenform. Dieser Test ist als positiv zu bewerten, wenn sich die Beschwerden des Patienten nach 45 bis 60 Minuten bessern.
Außerdem veranlasst die Ärzt*in ein CT des Brustkorbs, um nach einer Geschwulst des Thymus zu suchen, die bei der Thymom-assoziierten Myasthenia gravis vorkommt (siehe Formen der Myasthenie).
Differenzialdiagnosen. Neben der Myasthenia gravis gibt es noch einige andere Muskelerkrankungen, die zu einer Muskelschwäche führen, z. B. das Lambert-Eaton-Myasthenie-Syndrom oder andere seltene angeborene, genetisch bedingte Störungen der neuromuskulären Übertragung. Auch manche Arzneimittel lösen Muskelschwäche aus. Zu Doppelbildern und Schluckstörungen kommt es zudem beim Botulismus. Leidet die Patent*in nur unter Augenbeschwerden, muss die Ärzt*in Gehirntumoren oder Hirnarterienaneurysmen ausschließen.
Behandlung
Die Beschwerden werden bei der Mehrzahl der Patient*innen gut durch Cholinesterase-Hemmer wie Pyridostigmin (z. B. Mestinon®) gelindert, welche den Abbau des Überträgerstoffs Acetylcholin verringern und dadurch dessen Konzentration an den Kontaktstellen erhöhen. Der Neurologe oder die Neurologin verordnet das Medikament einschleichend und passt die Dosis dem therapeutischen Effekt an. Da die Wirkung nur etwa 3–6 Stunden anhält muss die Patent*innen die Tabletten 3–4 Mal am Tag einnehmen. Häufige unerwünschte Wirkungen sind Übelkeit, Bauchkrämpfe, Durchfall, verlangsamter Herzschlag und vermehrtes Schwitzen. In der Regel lassen die Nebenwirkungen im Verlauf der Therapie nach.
Reichen Cholinesterase-Hemmer nicht aus, bekommt die Patent*innen zusätzlich Immunsuppressiva, um die fehlgeleiteten Abwehrvorgänge im Körper zu dämpfen. Dabei verordnet die Ärzt*in Kortison, Azathioprin (z. B. Imurek®) oder ein anderes Immunsuppressivum (Rituximab, Cyclosporin A, Tacrolimus), entweder als Monotherapie oder miteinander kombiniert. Bei allen Immunsuppressiva muss regelmäßig das Blutbild kontrolliert werden, da sie die weißen Blutzellen, die Erythrozyten und die Thrombozyten verringern können. Bei der regelmäßigen Einnahme von Kortison sind außerdem auf die durch diesen Wirkstoff häufigen Nebenwirkungen zu achten, wie beispielsweise Knochenschwund (Osteoporose), Gewichtszunahme, Linsentrübung und Störungen der Sexualfunktion.
Thymektomie. Besteht eine Geschwulst des Thymus, wird der Thymus operativ entfernt. In einigen Fällen empfehlen die Ärzt*innen die Operation auch, wenn der Thymus nicht vergrößert ist. So zum Beispiel, wenn die medikamentöse Therapie keine Wirkung zeigt oder bei Patient*innen mit einer generalisierten Myasthenie.
Bei sehr schweren Formen oder bei der myasthenen Krise versuchen die Ärzte, die schädigenden Antikörper mithilfe einer Plasmapherese (Blutwäsche) zu entfernen. Eine andere Methode ist die Gabe von hochdosierten Immunglobulinen über mehrere Tage, wobei das Wirkprinzip dieser Off-Label-Behandlung unklar ist.
Prognose
Über 90 % der Betroffenen können mit den Medikamenten weitgehend normal leben, berufstätig sein und sogar Sport treiben. Berufe mit körperlicher Dauerbelastung sind allerdings nicht möglich.
Von den Patient*innen, die eine myasthene Krise entwickeln, sterben trotz Behandlung 2–3 %. Unbehandelt ist die Letalität deutlich höher.
Ihre Apotheke empfiehlt
- Achten Sie bei Infekten und Fieber gut auf Ihre muskulären Beschwerden. Sollten Sie Schluck- oder Atemstörungen entwickeln, suchen Sie unverzüglich Ihre Ärzt*in auf.
- Halten Sie sich genauestens an die vom Arzt oder Ärztin verschriebene Dosierung und Einnahmehinweise Ihrer Myasthenie-Medikamente. Eine Über- oder Unterdosierung kann schwerwiegende Folgen wie z. B. eine myasthene Krise haben.
- Tragen Sie immer Ihren Myastheniepass bei sich, damit z. B. bei einem Unfall keine falschen Medikamente gegeben werden.
- Schließen Sie sich einer Selbsthilfegruppe an oder suchen Sie anderweitig Informationen und Rat (Links zu informativen Webseiten siehe "Weiterführende Informationen").
- Bei Sprechstörungen hilft die logopädische Behandlung, Doppelbilder lassen sich mit speziellen Brillen lindern. Je nach Ausmaß der Erkrankung haben Sie Anspruch auf weitere Hilfsmittel, z. B. eine Halskrause zur Kopfunterstützung, Gehstock, Rollator oder Rollstuhl.
- Sprechen Sie bei Kinderwunsch mit Ihrer Ärzt*in, da eine Medikamentenumstellung erforderlich sein kann.
Weiterführende Informationen
Die deutsche Myasthenie Gesellschaft e.V. bietet Betroffenen Hilfe, Unterstützung und Austausch unter https://dmg-online.de/ Informationen für Betroffene und Angehörige finden sich auf https://www.myasthenia-gravis.eu/ Über die Webseite der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e.V. kann man Kontakt zu Diagnosegruppen bekommen: https://www.dgm.org/diagnosegruppen

Fidget Spinner sollen ADHS-Betroffenen helfen, ihre Konzentration zu verbessern.
ADHS bei Erwachsenen
Nur eine Modediagnose?
Immer mehr junge Erwachsene glauben, an ADHS zu leiden. Stimmt das, oder ist die Erkrankung nur eine Modediagnose? Und wie sieht es mit den verordneten Stimulanzien aus – besteht durch ihre Einnahme tatsächlich eine Missbrauchsgefahr, wie oft behauptet wird? Eine Expertin gibt Antworten.
Wartelisten werden länger
Früher wurde das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADHS) vor allem mit Kindern in Verbindung gebracht. Inzwischen ist bekannt, dass auch Erwachsene darunter leiden – in den sozialen Medien gibt es inzwischen sogar einen regelrechten Hype darum. Das hat Vor- und Nachteile, wie Prof. Alexandra Philipsen vom Universitätsklinikum Bonn sagt.
Durch Selbstdiagnosen via Internet werden die Wartelisten in den Arztpraxen immer länger. Das führt dazu, dass die Menschen, die wirklich an der Störung leiden, nicht schnell genug in ärztliche Behandlung kommen. Doch durch das vermehrte Interesse werden auch mehr Erkrankte erkannt. Denn ADHS ist keine Modediagnose, betont Prof. Philipsen – im Gegenteil.
Bei Frauen oft später erkannt
Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland bis zu 4% der Erwachsenen an ADHS leiden. Nach Krankenkassendaten gibt es jedoch deutlich weniger Diagnosen – ein Hinweis darauf, dass die Krankheit immer noch unterdiagnostiziert ist, sagt Prof. Philipsen. Frauen und Männer sind etwa gleich häufig daran erkrankt. Bei Frauen wird die Diagnose allerdings meist erst drei Jahre später gestellt als bei Männern.
Trotz der verstärkten Awareness um ADHS ist das Durchschnittsalter bei der Diagnose im Erwachsenenalter insgesamt viel zu hoch, betonte die Expertin. Es liegt bei circa 30 Jahren – eine große Lücke, wenn man bedenkt, dass die Erkrankung schon im Kindesalter beginnt. Eine Erklärung dafür ist die Auffassung, ADHS sei eine Kinderkrankheit und würde sich auswachsen. Die Realität sieht anders aus: 60% nehmen ihre Erkrankung ins Erwachsenenalter mit.
Frühzeitig medikamentös therapieren
Eine frühere Diagnose ist gerade bei ADHS wichtig. Denn je länger nicht behandelt wird, desto stärker sind die sozialen Beeinträchtigungen. Die medikamentöse Therapie hilft auch im Erwachsenenalter. Zudem verringert sie bei den Betroffenen das Risiko für Depressionen und Suchterkrankungen. Zugelassen dafür sind Methylphenidat, Lisdexamfetamin und Atomoxetin. Im Gegensatz zu den Vorbehalten haben diese Stimulanzien nur ein geringes Missbrauchspotenzial, betont die Expertin. Sie sollten frühzeitig eingesetzt werden, wenn die Betroffenen trotz Psychotherapie nicht mit ihren Beschwerden zurechtkommen.
Quelle: Medscape